Gesunder Darm
Kopf oder Bauch: Wer hat hier das Sagen?
Unser Darm ist mehr als ein Verdauungsorgan: Er hält uns fit, macht gesund und beeinflusst sogar Psyche und Charakter. Höchste Zeit also, ihn aus seinem Schattendasein zu befreien und ihm etwas mehr Aufmerksamkeit, Ballaststoffe und Probiotika zu schenken.
Der menschliche Darm ist die größte Wohngemeinschaft aller Zeiten: 100 Billionen Untermieter hausen in unserer Körpermitte. Damit leben dort mehr Mikroorganismen als Menschen auf der Erde – das sind im Vergleich nämlich gerade einmal 7,3 Milliarden. Hunderte unterschiedliche Arten von Darmbakterien erfüllen im Körper wichtige Funktionen. Trotzdem werden Darmangelegenheiten von uns verschämt aufs stille Örtchen verbannt. Bis jetzt! Denn neue Forschungserkenntnisse sorgen für Gesprächsstoff: Darmbakterien spielen eine Schlüsselrolle für unsere Gesundheit und erledigen nicht einfach nur die Verdauungsarbeit. Sie können mehr als Nährstoffe aus dem Essen in verwertbare Bestandteile spalten. „Die Forschung fängt an, den Menschen als Ökosystem zu begreifen“, erklärt Autorin Giulia Enders, in „Darm mit Charme“. Die Medizinstudentin macht das Thema Darm mit ihrem Buch salonfähig.
Gesunder Darm? Die Mikrobiota gibt den Ton an
Die unzähligen Darmbakterien in unserem Körper bilden die sogenannte Mikrobiota – umgangssprachlich als Darmflora bezeichnet. „Störungen der Mikrobiota können zur Entstehung von Krankheiten wie chronisch entzündlichen Darmerkrankungen oder Allergien führen“, sagt Professor Andreas Stallmach, Direktor der Klinik für Innere Medizin in Jena. Untersuchungen haben gezeigt, dass es Verbindungen zwischen Mikrobiota und zahlreichen Erkrankungen gibt. So berichten Wissenschaftler des Helmholtz- Zentrums München in einer Studie zur Stoffwechselkrankheit Diabetes-Typ-1, dass sich das Zusammenspiel der Darmbakterien bei gesunden Kindern von jenen mit Diabetes typischen Autoantikörpern unterscheidet.
In anderen Untersuchungen konnte ein Zusammenhang zwischen Mikrobiota und Adipositas hergestellt werden. Bei Normalgewichtigen wurden vor allem Bacteroidetes-Bakterien, bei Adipösen überwiegend Firmicutes-Bakterien im Darm gefunden. Dabei handelt es sich um zwei Bakterien-Hauptstämme, die den Energiestoffwechsel unterschiedlich beeinflussen. Während die „guten“ Bacteroidetes Ballaststoffe unverdaut ausscheiden, produzieren die „schlechten“ Firmicutes Enzyme, die selbst unverdauliche Kohlenhydrate in verwertbare Kalorien spalten und diese im Körper bunkern, als müsse sich der Mensch für Notzeiten wappnen. Die Folge: Im Gegensatz zu schlanken Menschen holen Adipöse bei jeder Mahlzeit mehr Kalorien aus der Nahrung heraus.
„Die Darmflora ist als neues Organ zu verstehen. Noch vor zehn Jahren hätte das niemand gedacht“, sagt Stallmach. „Aber das Ganze ist wie bei Henne und Ei: Was war zuerst da? Hat die Mikrobiota die Entstehung der Krankheit bedingt oder führte erst die Erkrankung zu einer veränderten Darmflora? Noch wissen wir es nicht und müssen weitere Untersuchungen durchführen. Ich bin mir sicher, dass sich daraus in Zukunft neue Behandlungsmöglichkeiten erschließen werden.“ Eine solche Behandlung könnte zum Beispiel die Gabe von sogenannten Probiotika sein – lebende Mikroorganismen, die natürlicherweise in Joghurt, Buttermilch oder Kefir vorkommen und einen positiven Effekt auf die Gesundheit haben sollen. Schon jetzt werden diese zur Linderung von Symptomen des Reizdarm-Syndroms oder zur Stärkung des Immunsystems eingesetzt.
Bauch über Kopf? So beeinflusst der Darm unsere Psyche
Für richtige Stimmungsmache in Sachen Darm und Probiotika sorgte Professor Emeran Mayer von der University of California in Los Angeles. 2013 veröffentlichte er eine Untersuchung, die in Bezug auf Angststörungen und Depressionen aufhorchen ließ: Ist es möglich, sich einfach glücklich zu essen? In Mayers Experiment bekamen weibliche Testpersonen vier Wochen lang einen speziellen probiotischen Joghurt. Das Ergebnis: Bestimmte Hirnregionen reagierten bei ihnen weniger stark auf negative Reize, als es bei Versuchspersonen der Fall war, die normalen Joghurt aßen.
Dass Kopf und Bauch miteinander verbunden sind, kennen wir alle: verliebtes Kribbeln im Bauch, Durchfall bei Stress, Appetitlosigkeit bei Trauer. „Stress ist vermutlich einer der wichtigsten Reize, die Hirn und Darm miteinander besprechen“, schreibt Giulia Enders in ihrem Buch. Die Kommunikation zwischen den beiden übernimmt der sogenannte Vagusnerv. Und der scheint wie eine Telefonleitung in beide Richtungen zu funken. Informationen aus dem Darm kommen im Gehirn dort an, wo die Emotionen verarbeitet werden – im limbischen System. Bisher dachte man, der Ursprung von Emotionen sei das Gehirn. Doch jetzt macht der Darm ihm mächtig Konkurrenz: Ob wir gut oder schlecht gelaunt sind, wird demnach nicht etwa im Oberstübchen, sondern einige Etagen tiefer entschieden. Unsere Stimmung hängt also auch davon ab, wie es unserem Darm geht. Das „Darmhirn“ verfügt über ein eigenes Nervensystem, durch das mehr Nervenzellen laufen als in unserem Rückenmark.
Der Darm – ein prägender Charakter
Ein Experiment mit Mäusen an der McMaster Universität im kanadischen Hamilton lässt sogar vermuten, dass die Kommunikation zwischen Darm und Hirn manipulierbar ist. Das Team von den Gastroenterologen Stephen Collins und Premysl Bercik übertrug die Darmbakterien einer mutigen Mäuserasse auf eine schüchterne und umgekehrt. Durch den Transfer wurden die stammspezifischen Verhaltensweisen weitergegeben: Mäuse, die zuvor schüchtern waren, wurden neugieriger. Die von Natur aus eher abenteuerlustigen Mäuse verhielten sich plötzlich zurückhaltend. Wenn dieses Experiment auf Menschen übertragbar wäre, würde das bedeuten: Der Grundstein für bestimmte Charaktereigenschaften wird im Darm gelegt. Experten sehen selbst den Zusammenhang einer frühen Störung der Mikrobiota und der Entstehung von Autismus.
Durchbruch im Kampf gegen den lebensgefährlichen Krankenhauskeim
In der chinesischen Medizin gilt die Übertragung von Stuhl schon lange als Heilmittel. Könnte der Transfer von Darmbakterien tatsächlich die Lösung aller Probleme sein? Zumindest findet er in der modernen Medizin bereits Anwendung – gegen einen lebensgefährlichen Krankenhauskeim. Bei einer Durchfallerkrankung infolge einer Infektion mit dem Clostridium difficile-Erreger, bei der die Darmflora durch die Einnahme von Antibiotika geschädigt wurde, wird der Transfer von Stuhl als Therapie eingesetzt. „Pro Jahr sterben an dieser Infektion 6.000 Menschen. Das sind 2.000 mehr als jährlich bei Verkehrsunfällen ums Leben kommen“, sagt Stallmach. „Hierfür durch Stuhlübertragung eine Behandlungsmöglichkeit gefunden zu haben, ist ein großer Durchbruch“, bestätigt Professor Christian Trautwein, Direktor der Klinik für Gastroenterologie, Stoffwechselerkrankungen und Internistische Intensivmedizin an der Uniklinik RWTH Aachen und Vertreter der Deutschen Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS).
„Während alles andere bisher nur an Tiermodellen durchgeführt wurde, konnte hier der Erfolg beim Menschen festgestellt werden“, sagt Trautwein. Bei der Behandlung wird gesunder Stuhl speziell aufbereitet und entweder durch ein Endoskop in den Dünndarm des Patienten verabreicht oder zu Kapseln verarbeitet und eingenommen. „Doch damit ist auch das Risiko verbunden, dass bestimmte Krankheiten mit übertragen werden“, sagt Stallmach. Professor Trautwein berichtet von dem bisher wohl bekanntesten Fall: „Einer schlanken Frau wurden die Darmbakterien ihrer adipösen Tochter zur Behandlung von Clostridium difficile verabreicht. Die Krankheit konnte geheilt werden, aber die Frau wurde infolgedessen ebenfalls übergewichtig.“
Tipps für Ihre Darmgesundheit: So essen Sie sich fit
Experten sind sich einig, dass in der Mikrobiota ungeahnte Kräfte schlummern. „Es ist wie ein 400-Meter-Lauf. Wir sind gestartet, befinden uns aber noch in der ersten Kurve“, sagt Stallmach. Gute Gründe, auf seine Darmgesundheit zu achten, gibt es jetzt schon viele. Wer sich ausgewogen ernährt und viel bewegt, hält seine Abwehrkräfte auf Trab, beugt Übergewicht und Darmkrebs vor. „Probiotische Joghurts sind ein Kann, kein Muss. Wichtig ist, Nikotin und übermäßigen Alkoholkonsum zu vermeiden – das schädigt die Darmflora und sorgt für toxische Veränderungen“, so Trautwein. Bei Alkohol lautet die Devise: je weniger, desto besser. Der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) zufolge gilt für einen gesunden Erwachsenen folgende Obergrenze als noch vertretbar: maximal zwölf Gramm Alkohol pro Tag bei Frauen (entspricht 0,1 Liter Wein oder 0,25 Liter Bier), maximal 24 Gramm pro Tag bei Männern und mindestens zwei alkoholfreie Tage in der Woche. Für einen darmfreundlichen Lebensstil gilt:
- Machen Sie Sport und essen Sie viel Obst, Gemüse und Fisch.
- Schränken Sie Ihren Fleischkonsum ein – zwei bis drei Mal 100 Gramm pro Woche sind genug.
- Die Einnahme von Flohsamenschalen fördert die Darmgesundheit: Das Naturheilmittel hilft bei Verdauungsproblemen, zum Beispiel bei Durchfall oder Verstopfungen.
- Leinsamen, Mandeln, getrocknete Pflaumen, Haferflocken, Linsen, Amaranth und Quinoa schmecken dem Darm ebenfalls gut: Sie liefern ihm seine Lieblinge – die Ballaststoffe.
Experten-Interview mit Prof. Stallmach: „Darmkrebs ist heimtückisch“
Wie entsteht Darmkrebs und wer hat ein erhöhtes Risiko?
In 10 bis 15 Prozent der Fälle ist Darmkrebs genetisch bedingt. Bei 85 Prozent entsteht die Krankheit aber durch Umwelteinflüsse wie einen ungesunden Lebensstil mit falscher Ernährung und wenig Bewegung. Je mehr verarbeitete Fleischprodukte man isst, desto höher ist das Darmkrebsrisiko. Wer über 50 Jahre alt ist oder an einer chronisch entzündlichen Darmkrankheit leidet, hat ebenfalls ein erhöhtes Risiko und sollte zur Vorsorgeuntersuchung gehen.
Bei welchen Symptomen sollte man zum Arzt?
Darmkrebs ist heimtückisch, denn Symptome treten erst im fortgeschrittenen Stadium auf. Deshalb ist die Früherkennung durch eine Vorsorgeuntersuchung bei dieser Krebsart besonders wichtig. In der Vorstufe ist Darmkrebs noch zu 100 Prozent heilbar, danach sinkt die Chance. Wer Warnzeichen wie Blut im Stuhl oder veränderte Stuhlgewohnheiten – zum Beispiel Durchfall oder Verstopfungen – feststellt, stark Gewicht verliert oder an einer Blutarmut leidet, sollte sich untersuchen lassen.
Wie sieht eine Vorsorgeuntersuchung aus?
Als Vorsorgeuntersuchung können ein Test auf verstecktes Blut im Stuhl, eine Tastuntersuchung des Mastdarms und eine Darmspiegelung durchgeführt werden. Die Darmspiegelung ist eine effektive Methode, um Polypen im Darm zu entdecken. Dabei handelt es sich um Schleimhautvorwölbungen, die vor allem im Alter und bei übergewichtigen Menschen auftreten. Aus ihnen können sich bösartige Tumoren entwickeln, deshalb müssen sie entfernt werden.
Wie läuft eine Darmspiegelung ab?
Zwei bis drei Tage vor dem Termin sollte der Patient keine Lebensmittel mit Körnern oder Kernen essen. Einen Tag vorher bekommt er ein Abführmittel, um den Darm zu reinigen. Der Eingriff findet auf Wunsch unter einer leichten Narkose statt – bei dieser Sedierung befindet sich der Patient in einem Dämmerschlaf und bekommt nichts mit. Die Untersuchung ist auch ohne Narkose möglich. Dabei ist mit einem krampfartigen, aber erträglichen Schmerz zu rechnen. Bei der Darmspiegelung wird das Endoskop vom Enddarm über den Dickdarm bis zum Dünndarm geführt. Beim langsamen Zurückziehen schaut sich der Arzt dann alles ganz genau an. Nach 20 Minuten ist alles überstanden.
Veröffentlicht: 24.02.2016