• Samira Mousa | chronisch-fabelhaft.de

    „Die Krankheit hat mich abenteuerlustiger gemacht“

    Digitale Nomadin trotz Multipler Sklerose

Ein Leben mit Multipler Sklerose ist anstrengend, es ist ungewiss und oft bedrohlich. Dass man damit leben und sogar um die halbe Welt reisen kann, zeigt die 29-jährige Bloggerin Samira Mousa. Nachdem sie den ersten Schock überwunden hatte, bedeutete für sie die Krankheit sogar eine positive Wende in ihrem Leben. Wie das kam, berichtet sie seit einigen Jahren in ihrem Blog „chronisch fabelhaft“. Sie schreibt über ihr Leben mit der Erkrankung, sie möchte Mut machen und die Krankheit trotzdem nicht verharmlosen.
Ein Jahr lang machte Samira weiter, als wäre nichts – ein bisschen aus Angst, ein bisschen aus Trotz. Gerade hatte sie die Diagnose Multiple Sklerose erhalten, mit 22 Jahren. Sie arbeitete als Bookerin in einem Techno-Club, organisierte nebenbei noch Festivals. Wenig Schlaf, kein Sport und viele Zigaretten bestimmten ihren Alltag. „Dann hat mir mein Körper gezeigt, wer der Chef ist“, erzählt Samira vom Beginn ihrer Erkrankung. Es dauerte ein weiteres Jahr, bis sie sich mit ihrer Krankheit arrangieren konnte, bis sie beschloss, einen Blog über ihre Erkrankung zu schreiben. Darin verarbeitet sie bis heute ihr Leben mit Multipler Sklerose.

Video: Digitale Nomadin mit Multipler Sklerose: Samira Mousa im Porträt


„Meine Ärzte haben mir nichts gesagt“, erklärt die 29-jährige Bloggerin, „ich musste selbst schauen, was ich tun kann, damit ich den Verlauf meiner Krankheit so positiv wie möglich beeinflussen kann.“ Die Krankheit ist nicht heil­bar, doch der Verlauf kann beeinflusst werden. Die Forschung über Multiple Sklerose zeigt beispiels­weise: Neben einem möglichst frühen Therapie­beginn hat die entsprechende Ernährung einen großen Einfluss auf die Ausprägung der Erkrankung.

Leben mit MS bedeutet einen Umgang mit der Angst zu finden

Bis Samira mit der Krankheit umgehen konnte, brauchte es zwei Jahre. Erst, als sie sich klar machte, dass bisher nichts Schlimmes passiert war, fing sie an, ihre MS-Erkrankung in die Hand zu nehmen. „Es war reine Kopfsache, bestimmt von Angst“, sagt sie heute. Das Gefühl der Angst hält sie für gut und wichtig, man müsse lernen, mit der Angst zu leben. Heute empfiehlt sie, nicht nur einen Arzt aufzusuchen, sondern sich von mehreren Seiten beraten zu lassen. Die Haltung gegenüber der Krankheit müsse man erst lernen, weshalb sie gleichzeitig rät: „Lass‘ dich nicht verrückt machen!“.
Die Symptome von Multipler Sklerose, kurz MS, starten meistens mit einer klar umrissenen Funktionsstörung, beispielsweise des Sehsinns oder der Gefühlsempfindungen. Danach kommen die Symptome meist in Schüben. Das heißt, für einen Zeitraum von einigen Tagen bis wenigen Wochen kommen Symptome auf, die sich dann vollständig oder unvollständig zurückbilden. Je länger die Krankheit andauert, desto eher kann es zu bleibenden neurologischen Schäden kommen. Die Lebenserwartung verkürzen kann aber nur eine sehr seltene Variante von MS.
Dennoch: Viele MS-Patienten haben nicht wie Samira das Glück eines milden Krankheitsverlaufs. Es kann zu einer zunehmenden Pflegebedürftigkeit kommen, immer weniger Möglichkeit zur selbständigen Lebensführung. Häufig sind Bewegungseinschränkungen, die manche Erkrankte in den Rollstuhl bringen. Auch zu Sprechproblemen kann es kommen oder der sogenannten Fatigue, einer akuten Erschöpfung ohne vorhergegangene Anstrengung.
Nicht zu unterschätzen sind darüber hinaus die psychischen Auswirkungen. Wie bei allen chronischen Erkrankungen können Beziehungen leiden, Freunde wenden sich ab, weil die Betroffenen nicht mehr an gemeinsamen Tätigkeiten teilnehmen können. Partnerschaften kann die Krankheit auf eine schwere Probe stellen. Immer wieder wird auch von Persönlichkeitsveränderungen der Erkrankten berichtet.

Samiras Blog „chronisch fabelhaft“

Samira traf bei der Recherche über ihre Diagnose im Internet auch auf viele schlimme Szenarien. Sie entschied für sich, dieser Grundstimmung nicht folgen zu wollen, das helfe niemandem weiter, betont Samira. Um einen Einblick in die Krankheit und den Umgang damit zu geben, beschloss sie daher 2017 einen eigenen Blog zu schreiben, in dem sie MS ganz anders darstellen wollte. Seitdem schreibt sie auf ihrer Seite: „chronisch fabelhaft“ über ihr Leben mit der MS-Diagnose. Sie gibt Tipps, beschreibt Probleme und Lösungen, interviewt Gleichgesinnte, berichtet vom Reisen und schreibt über eine gesunde Ernährung.

Alles über Multiple Sklerose

Multiple Sklerose (MS) ist eine entzündliche Erkrankung des Zentralen Nervensystems, die das Gehirn und das Rückenmark betrifft. MS gehört zu den Autoimmunerkrankungen und ist die häufigste chronisch-entzündliche Krankheit in Mitteleuropa. Sie wird auch die „Krankheit der 1.000 Gesichter“ genannt, da sie aufgrund der Art der Entzündungen nahezu jedes neurologische Symptom hervorrufen kann. Entsprechend unterscheiden sich von Patient zu Patient Verlauf, Beschwerdebild und Therapieerfolg. Die Ursache der Krankheit ist noch nicht geklärt. Vermutet werden mehrere Ursachen, die gleichzeitig auftreten müssen. Das Immunsystem spielt dabei eine zentrale Rolle. Auch eine genetische Veranlagung wird nicht ausgeschlossen. Weltweit leben rund 2,5 Mio. Menschen mit MS.
Verlaufsformen
  • Zu Krankheitsbeginn überwiegt die schubförmige Verlaufsform. Das rasche Auftreten von einem oder mehreren Entzündungsherden mit entsprechenden körperlichen Störungen nennt man Schub. Dieser kann sich über Stunden oder Tage aufbauen und ebenso lange wieder abklingen. Meistens kommt es nach etwa 10 bis 15 Jahren zu einem sekundär chronischen Verlauf. Nur in sehr wenigen Fällen (unter 5 %) führt die Krankheit innerhalb weniger Jahre zu einer schweren Behinderung. Die Krankheit ist weder ansteckend noch zwangsläufig tödlich. Das Erscheinungsbild und die anfänglichen Beschwerden können auch anderen Krankheiten ähneln. Eine gesicherte Diagnose beruht auf einer umfassenden Anamnese.
Symptome
    • Abnorme, vorzeitige Erschöpfbarkeit
    • Kognitive Störungen
    • Einschränkungen der Aufmerksamkeit, Merkfähigkeit und Konzentration
    • Depressive Verstimmungen
    • Schwindel
    • Motorische Störungen, wie Lähmungen und Sehstörungen
    • Gefühlsstörungen der Haut, wie Kribbeln oder Taubheitsgefühl
    • Doppelbilder oder „verwaschenes“ Sprechen
    • Spastische Lähmungserscheinungen (Gehprobleme, Blasenstörungen etc.)
Behandlung
  • Für die Behandlung von Multipler Sklerose werden Medikamente zur Verzögerung des weiteren Fortschreitens der Krankheit gegeben. Diese Medikamente können sehr starke Nebenwirkungen haben, weshalb die Erkrankten sie in beschwerdefreien Phasen teilweise absetzen, um die gewonnene Lebensqualität nicht wieder zu senken. Daneben werden bei Schüben die Entzündungen bekämpft und die entstehenden neurologischen Störungen soweit wie möglich wiederhergestellt.

Halt in der Gemeinschaft finden

Wenngleich die Störungen nicht immer im schlimmsten Ausmaß auftreten, machen diese Aussichten Angst. Samira will MS-Patienten und Angehörigen im Umgang mit dieser Angst unterstützen. Gerade weil die Krankheit so unterschiedlich verlaufen kann, will sie gemeinsam an einer positiven Einstellung gegenüber dem Leben mit MS arbeiten. Das Wir-Gefühl ist ein wichtiger Aspekt in ihren Texten, „Chronisch krank – und trotzdem fabelhaft“ lautet das Motto ihres Blogs.
Eine Gemeinschaft ist wichtiger, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Es gibt neben Selbsthilfegruppen kaum Institutionen, die sich um die Betreuung von MS-Erkrankten kümmern. Für das Altenpflegeheim sind schwerer Betroffene zu jung. In der Regel sind Angehörige die einzigen, die helfen können, die aber auch gezwungen sind, weil es keine Alternativen gibt.
Ihr Blog ist für Samira daher auch eine Selbsttherapie, wie sie sagt. Worüber sie schreibt, spiegelt ihren Verarbeitungsprozess der MS wider. Gleichzeitig sei es aber auch eine Businessidee gewesen. Der wachsende Erfolg ihres Blogs bot ihr die Möglichkeit, sich den Wunsch zu erfüllen, die Welt zu bereisen.

Reisen mit MS: Leben als Digitale Nomadin

„Ich war schon immer reiseverrückt, kam aber nie aus meinem Hamsterrad. Durch die Diagnose habe ich verstanden, dass mein Leben endlich ist“, sagt die Bloggerin rückblickend. Was aus der Not heraus geboren wurde, entpuppte sich für Samira als große Chance: „Weil ich endlich wusste, was es war, das mir fehlte. Mir fehlte Zeit, mir fehlte Freiheit. Und so wuchs der Wunsch danach, alles hinzuschmeißen. Alles neu, alles anders zu machen. Die Krankheit hat mich abenteuerlustiger gemacht.“

Samiras Rat an Patienten mit neuer MS-Diagnose:

  1. Google nicht zu viel.
  2. Stelle deine Facebook-MS-Gruppe so ein, dass dir nicht jede Meldung angezeigt wird.
  3. Gehe zu verschiedenen Ärzten, nicht nur einem.
  4. Lass‘ dich nicht verrückt machen.
  5. Alles kann, nichts muss: Dein Verlauf muss nicht der schlimmstmögliche sein.
Trotzdem geht die Multiple Sklerose stets mit auf Reisen. Einen 40-Liter-Beutel voll mit Pillendosen trägt sie immer bei sich. Die Medikamente lässt sie sich im Vorhinein verschreiben. Momentan macht Samira eine alternative MS-Therapie. Deswegen überprüft sie im Voraus, ob an ihrem Reiseziel die Nahrungsergänzungsmittel zu liefern sein werden. Kommt ein Schub, muss sie im Zweifel ins Krankenhaus. Das kann schnell teuer werden, eine gute Reisekrankenversicherung ist wichtig. Dennoch ist MS eine vergleichsweise reisefreundliche Krankheit. Bis heute musste Samira noch keine Reise abbrechen und nimmt für den Zugewinn an Lebensqualität den Planungsaufwand gerne in Kauf.

Zurück in die Heimat, mit neu gewonnener Freiheit

Allmählich bekommt Samira Heimweh, möchte wieder zur Ruhe kommen. „Ich habe wieder Lust auf einen Vertrag im Fitnessstudio, auf meine eigene Wohnung, auf Balkonpflanzen“, sagt sie. Dass sie das heute so sicher feststellen kann, verdankt sie der neuen Freiheit, die sie sich erarbeitet hat. Samira hat die Diagnose Multiple Sklerose als Hinweis zur Verbesserung ihrer Lebensführung genutzt.
Multiple Sklerose ist eine unheilbare Krankheit, die ein Leben lang Ungewissheit vor der Zukunft schafft. Immer wieder gibt es Zuversicht, aber die Realität ist oft unerbittlich. Die Krankheit sollte nicht verharmlost werden, auch Samira ist das sehr wichtig. Ihren Auftrag sieht sie darin Mut zu machen, auch wenn die Lage aussichtslos scheint. Ihre Botschaft an alle Betroffenen lautet daher: „Du kannst es schaffen! Die Stimme in dir, die ganz genau weiß, was das Richtige ist für dich: Sie wird zurückkehren. Ja, ich behaupte, sie wird stärker, je länger man eine chronische Krankheit hat. Deine MS wird dein innerer Anzeiger. Deine eingebaute Notbremse. Du wirst spüren, dass du ein immer genaueres Gefühl dafür entwickelst, was für dich richtig ist und was nicht.“