Unterbesetzte Stationen, überlastetes Personal: In deutschen Kliniken und Altenheimen arbeiten immer mehr Pflegekräfte am Limit. Auch Menschen, die ihre eigenen Angehörigen pflegen müssen, sind oft überfordert: seelisch und körperlich. Was also tun, wenn Menschen, die eigentlich helfen sollen, plötzlich so ausgebrannt sind, dass sie selbst Hilfe brauchen? Zwei Betroffene berichten von ihrem Weg aus dem Burnout.
Wenn der Übereifer zum Verhängnis wird
Menschen begleiten, wenn sie Hilfe am dringendsten brauchen – für Sabine Kopper* war das ein Traumberuf. 30 Jahre lang hat sie sich als Pflegekraft aufgeopfert, zuerst in der Altenpflege, später als Stationsleitung in einer Klinik. Obwohl physische und psychische Belastung groß sind, liebt Sabine Kopper ihren Job – sie absolviert Fortbildungen und Führungsseminare, macht immer ein bisschen mehr als eigentlich nötig.
Irgendwann kommt der Zeitpunkt, an dem Sabine Kopper genau dieser Übereifer zum Verhängnis wird. Zu den vielen schlaflosen Nächten gesellen sich plötzlich Bauchschmerzen. Also geht sie zum Arzt – eigentlich nur, um sich ein Mittelchen gegen die vermeintlich harmlose Magenverstimmung verschreiben zu lassen. Doch der Befund ist ein anderer: Diagnose Burnout. "Mein Hausarzt sagte mir damals auf den Kopf zu, dass ich kurz vorm totalen Kollaps stehe." Der Zusammenbruch folgt auf den Fuß: „Ich brach noch in der Praxis in Tränen aus", erinnert sie sich. Sabine Kopper bekommt eine sechswöchige Zwangspause verordnet, Schlafmittel und viel Ruhe inklusive.
Die Missstände müssen thematisiert werden
Um selbst ein noch größeres Drama zu verhindern, setzt sich die Krankenschwester nach ihrer Auszeit klare Grenzen. „Als ich in den Beruf zurückkehrte, habe ich meine Stunden reduziert und mehr auf mich geachtet." Als sich die Bedingungen in der Klinik weiter verschlechtern, zieht sie endgültig die Reißleine. Im Jahr 2001 wechselt Sabine Kopper in die Berufspolitik – um Missstände wie diese zu thematisieren und sich für die Rechte der Kollegen stark zu machen.
"Viele Pfleger sind spätestens mit 50 komplett abgearbeitet"
Inzwischen ist es 15 Jahre her, dass Sabine Kopper dem Pflegebetrieb den Rücken gekehrt hat. Verbessert hat sich die Situation seither nicht. Im Gegenteil. Die Gewerkschaft ver.di beklagt den Pflegenotstand – Personal fehlt an allen Ecken und Enden.
In den Kliniken und Altenheimen der Republik herrscht ein Arbeitsklima, das dazu führe, "dass viele Pfleger ihren Beruf deutlich früher verlassen wollen als geplant – weil sie spätestens Mitte 40 oder 50 sowohl physisch als auch psychisch komplett abgearbeitet sind", berichtet Gewerkschaftssekretär Rolf Winterboer. Studien, wonach etwa ein Drittel der deutschen Pflegekräfte Burnout-gefährdet ist, bestätigen diese These.
Job frisst Leben: Wenn das Privatleben den Bach runter geht
Wie zermürbend der Pflegealltag heutzutage sein kann, hat Marco Cohnen am eigenen Leib erfahren. Seit 2011 ist der 37-Jährige examinierte Pflegekraft. Für seine ersten zwei Jahre in einer Dürener Notfall-Ambulanz hat er einen hohen Preis gezahlt: "Dort bin ich das erste Mal nach meiner Ausbildung wirklich an meine Grenzen gestoßen – das ging so weit, dass letztlich meine Beziehung daran zerbrochen ist", erinnert er sich.
Grund war das immense Arbeitspensum: "Es gab Monate, in denen ich nur drei freie Tage hatte. Hinzukam, dass meine Dienste oft keine 8-, sondern 10- bis 13-Stunden-Schichten waren." Privates fällt zu dieser Zeit völlig hinten über – zu einem "normalen sozialen Leben", wie Marco selbst sagt, ist er nach Dienstschluss kaum noch imstande.
Neue Klinik, gleiches Problem
Als seine Freundin immer vehementer darauf drängt, dass sich endlich etwas ändern muss, wechselt er in eine Kölner Privatklinik – in der Hoffnung, dass dort alles besser wird. Die Beziehung geht dennoch in die Brüche und auch im neuen Job lassen die chaotischen Zustände nicht lange auf sich warten: Dienstpläne werden nicht eingehalten, der junge Pfleger muss immer mehr Nachtschichten und spontane Vertretungsdienste schieben.
Anfangs macht der 37-Jährige all das mit – er ist alleinstehend, hat keinerlei Verpflichtungen. Als dann aber eine neue Frau in sein Leben tritt, realisiert Marco plötzlich, wie wenig Zeit ihm für sich und sein Privatleben bleibt.
Auf den Zusammenbruch folgt die Erkenntnis
Dass ihn all das innerlich längst zerfressen hat, zeigt sich während einer der vielen Nachtdienste: "Als mir eine Patientin sagte, wie froh sie ist, dass ich an diesem Tag ihr Nachtpfleger bin, brach ich plötzlich in Tränen aus. Da war diese Zerrissenheit – zwischen dem Gefühl, immer noch nicht genug für die Patienten getan zu haben, und dem Gefühl, völlig überfordert und am Ende zu sein." Kurz darauf meldet sich Marco krank. Auch in seinem Fall ist die Diagnose klar: totales Burnout. Eine Ärztin rät dem jungen Mann, während seiner Auszeit einen Therapeuten aufzusuchen. Marco folgt dem Rat und erarbeitet gemeinsam mit einem Psychologen Strategien für seinen Arbeitsalltag: Öfter mal Nein sagen, zuerst an sich selbst denken.
Warum "Nein sagen" nicht immer einfach ist
Inzwischen ist Marco zurück auf Station, in seinem alten Job. Obwohl die Klinikleitung ihm nach seiner Rückkehr zugesichert hatte, dass er zunächst keine Nachtdienste mehr machen müsse und man ihn entlasten werde, spricht der Dienstplan des 37-Jährigen schon drei Monate nach seiner Auszeit eine andere Sprache.
Wieder wird er für Nachtschichten eingetragen, wieder muss er Zehn-Stunden-Dienste schieben, wieder werden die freien Tage weniger. Dass Marco sich nun dagegen wehrt, auch noch Vertretungsdienste zu übernehmen, sorgt vor allem bei den jüngeren Kollegen für Unverständnis.
"Klar, die Neuen wissen noch nicht, wie man auch mal Nein sagt – die machen aus Angst, ihren Job zu verlieren, alles, was ihnen vorgesetzt wird. Für die bin ich der, der nur das Nötigste macht."
Das Stresslevel im Team steigt
Doch nicht nur Marco bekommt das hohe Stresslevel zu spüren. Auch die Stimmung im Rest des Teams ist angespannt: "Die Unzufriedenheit ist hoch, die Leute haben teilweise keine Lust mehr und lassen Sachen liegen, weil sie nicht mehr hinterher kommen", berichtet der 37-Jährige.
Selbst die Stationsleiterin sei am Ende ihrer Kräfte. "Sie hat mir vor einiger Zeit mal gesagt, dass sie den Job nicht mehr lange machen will. Meiner Meinung nach steht sie selbst kurz vorm Burnout."
Bereits mittendrin sind offenbar gleich zwei Kollegen des 37-Jährigen: Eine Pflegekraft ist wegen eines Burnouts freigestellt, ein weiterer sei so ausgelaugt, dass der Kollaps nur eine Frage der Zeit zu sein scheint. "Er ist zunehmend aggressiv, blass, antriebslos, sucht keine sozialen Kontakte mehr und macht einfach nur noch sein Ding", berichtet Marco, der inzwischen sensibilisiert ist für die Symptome eines Burnouts. Dass all das bisher noch keine wirklich negativen Auswirkungen auf die Patienten gehabt habe, grenze an ein Wunder. "Es ist erstaunlich – aber es ist bisher noch nichts passiert."
Ausweg Jobwechsel?
Marco hadert inzwischen mit seinem Job, denkt über einen Wechsel nach – und das nicht nur wegen der hohen Arbeitsbelastung. "Einerseits ist da natürlich der Punkt, dass wir wahnsinnig wenig Freizeit haben und gleichzeitig eine immense Verantwortung tragen, die immer größer wird. Ein anderer Punkt ist aber auch die Bezahlung", sagt der 37-Jährige. Mit einem Grundgehalt von 1800 Euro sei es nahezu unmöglich, irgendwann eine Familie zu ernähren, findet er.
Es ist ein Thema, das den examinierten Pfleger umtreibt – schon mehrfach habe er versucht, die prekären Bedingungen zu thematisieren, sogar Flugblätter hat er unter den Kollegen verteilt. Doch worauf er traf, war Schweigen und Resignation. "Manchmal spiele ich mit dem Gedanken, einfach mal ein Buch zu schreiben", meint Marco – denn eigentlich, so sagt er, sei der Pflegeberuf ein Traumjob. Zumindest könnte er es sein. Anderen Menschen zu helfen, wenn sie Hilfe am dringendsten benötigen – das war auch Marcos Traum. Ein Traum, der sich unter den Bedingungen in Deutschlands Pflegeeinrichtungen zum Albtraum entwickelt hat.
*Name wurde von der Redaktion geändert
Erschienen am: 20. September 2016