• Psychotherapie in der Pflege

    Psychotherapie in der Pflege

    Wenn die Seele leidet

Einen Angehörigen pflegen geht an die Substanz – körperlich und vor allem psychisch. Hilfe kann eine psychologische Beratung oder sogar eine Psychotherapie bieten. Das gilt ebenso für ausgebildete Pfleger. Und auch unter den pflegebedürftigen Patienten herrscht ein großer Bedarf an psychotherapeutischer Behandlung, der manchmal nicht genügend im Fokus steht.
„Wer hatte den Schlaganfall, Sie oder Ihr Mann? Warum geht es dann Ihnen so schlecht?“ Diese Frage stellte ein Arzt Karina Lehnhardt*. Plötzlich saß sie in seiner Praxis und musste bitterlich weinen, als sie ihre Geschichte zu erzählen begann. Einige Monate vorher hatte ihr Mann einen Schlaganfall erlitten und war dadurch zum Pflegefall geworden. Mit einem Mal musste sie sich den ganzen Tag um ihn kümmern. Zusätzlich ging sie in Teilzeit arbeiten. Erst auf Drängen einer Freundin beantragte sie eine Erhöhung der Pflegestufe. „Meine Freundin hatte mitbekommen, wie es bei uns zuging und wie viel Unterstützung mein Mann bei nahezu jedem Handgriff brauchte“, erzählt die zweifache Mutter. Nachdem sie sich ihrem Arzt anvertraut hatte, riet er, sie müsse besser auf sich aufpassen. Das tat sie dann auch – mit Hilfe einer Psychotherapeutin.

Pflegende Angehörige von Depression bedroht

Wie schlecht es ihr vorher ging, habe sie zunächst gar nicht bemerkt: „Ich bin in den Funktionsmodus gewechselt. Es wird dann nicht mehr nachgedacht. Das merke ich an mir genauso wie an anderen, die ihre Angehörigen pflegen.“ Denn dass die Pflege eines Angehörigen nicht nur körperlich anstrengend ist, lässt sich häufig nicht so recht greifen. Es macht auch die Pflegenden krank, psychisch krank. Etwa ein Drittel der pflegenden Angehörigen in Deutschland erlebte bereits eine depressive Episode (siehe Infokasten). Da über 70 Prozent der Pflegebedürftigen zuhause betreut werden, ist das eine beträchtliche Zahl.
Fragt man Roberto Rotondo, sind das aber längst nicht alle, die in der Pflegesituation psychologische oder psychotherapeutische Unterstützung brauchen. Er ist leitender Psychologe im Haus Billetal, einem Pflegeheim in der Nähe von Hamburg. „Ich bin eine Ausnahme“, sagt er über sich selbst. Im Normalfall gehe das nicht miteinander einher – als Psychologe angestellt in einem Pflegeheim. Rotondo selbst ist zudem kein Psychotherapeut, sich gleichwohl aber sicher: „In einem Betrieb wie unserem würde einem Psychotherapeuten die Arbeit nicht ausgehen.“ Den Bedarf sieht er nicht nur für die Angehörigen, sondern auch für die Bewohner des Pflegeheims – und nicht zuletzt auch für die Pflegekräfte.

Angebots- und Versorgungslage nicht ausreichend

Trotzdem wird im Haus Billetal niemand psychotherapeutisch behandeln. „Das ist ein Problem“, befindet Rotondo. Sobald psychische Auffälligkeiten vorkämen, würden diese lediglich vom Psychiater mit Medikamenten behandelt. Das könne keine Lösung sein, findet der Psychologe: „Man redet nicht. Und Hausärzte brauchen keine Psychologen, um ihre Arbeit zu machen.“ Es sei nicht genug, vereinzelt verhaltenstherapeutische Ansätze zu versuchen, die von ihm und der Pflege auch schon umgesetzt würden. Vielmehr brauche es strukturierte Psychotherapieangebote, die den Patienten nachhaltig helfen könnten.

Ältere Menschen besonders problematische Zielgruppe

Die Versorgungslage von sogenannten Hochbetagten wird seit einiger Zeit kritisiert. Etwa 25 bis 35 Prozent pflegebedürftiger Menschen sind von psychischen Störungen betroffen. Dem gegenüber ist eine psychotherapeutische Behandlung in höherem Alter zumeist gar nicht vorgesehen. Die Älteren tauchen in den Statistiken der Krankenkassen schlicht nicht auf. Schon Sigmund Freud wies vor über 100 Jahren auf die dahinterstehende Problematik hin. Es fehle Patienten im Alter von „über fünfzig Jahren einerseits die Plastizität der seelischen Vorgänge“ und andererseits verlängere „das Material, welches durchzuarbeiten ist, die Behandlungsdauer ins Unabsehbare.“ Hochbetagte Patienten wären demnach zu komplizierte Fälle – und außerdem zu alt.
Dabei existieren durchaus Behandlungsverfahren, die auch für ältere Menschen funktionieren. Die kognitive Verhaltenstherapie zeigt beispielsweise Erfolge. Ebenso kann die sogenannte Lebensrückblicktherapie (siehe Infokasten) hilfreich sein, bei der die Patienten geleitet durch eine Psychotherapeutin oder einen Psychotherapeuten ihre Vergangenheit aufarbeiten.
Der Fokus in der Behandlung älterer Menschen ist ein anderer, es geht um aktiv-unterstützende und haltgebende Aspekte. Dass es funktioniert, zeigen bereits verschiedene Studien. In der Untersuchung „Psychotherapie der Depression im Pflegeheim“ von der Universität Heidelberg zeigte sich, dass nach einer Verhaltenstherapie die Hälfte von 22 Patienten aus Pflegeheimen keine Diagnose mehr hatten, weitere vier hatten Teilerfolge erzielt.

Vielversprechende Ergebnisse bei psychodynamischen Ansätzen

Zu einem ähnlich positiven Ergebnis kommt die Studie „Psychotherapie auf der Couch des Patienten“ der Medizinisch-Geriatrischen Klinik Albertinen-Haus in Hamburg. Für die Untersuchung bekamen pflegebedürftige Patienten eine sogenannte aufsuchende psychodynamische Psychotherapie. Im Gegensatz zu verhaltenstherapeutischen Verfahren geht es bei psychodynamischen Ansätzen stärker darum, die Lebensgeschichte zu reflektieren und die Patienten mit inneren Konflikten zu konfrontieren. Diese Konflikte zu klären, so konnte die Studie zeigen, führte zu mehr Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten der hochbetagten Patienten. Entsprechend lautet die Empfehlung, vermehrt zur psychotherapeutischen Behandlung von älteren Menschen zu forschen.
Roberto Rotondo sieht in der aktuell herrschenden Unterversorgung älterer und pflegebedürftiger Patienten ein Grundproblem. Dass er als Psychologe in einem Pflegeheim angestellt wurde, ist für ihn ein erster Anstoß zu einer notwendigen Veränderung, zu einer Professionalisierung des Betriebs durch Psychologen und andere Akademiker. „Ärzte werden regelmäßig hinzugezogen, warum dann nicht auch Psychotherapeuten?“, versucht Rotondo die Lage zu schildern. Aktuell ist er in der Pflegeeinrichtung allein zuständig für alle Fälle, in denen Bedarf nach psychologischer Beratung besteht: Für die Patienten, die Mitarbeiter und auch die Angehörigen.

Info: Lebensrückblicktherapie

Die sogenannte Lebensrückblickintervention ist eine an das höhere Alter von Patienten angepasste Psychotherapietechnik. Sie wird in der klinischen Gerontologie (Alterswissenschaft) angewendet und hat drei Ziele:
  • Das Leben mit seinen positiven und negativen Erinnerungen bilanzieren.
  • Traumatische Ereignissen und anderen schlimme Erlebnissen einen Sinn verleihen.
  • Schwierige oder kritische Erlebnisse in eine Erzählung formen und dadurch verarbeiten.
Das autobiografische Gedächtnis zu fördern, steht im Zentrum der Lebensrückblicktherapie. Dabei unterstützt beispielsweise ein „Oral-History-Interview“, das die erlebten Ereignisse zu erinnern und einzuordnen hilft. Der Therapieablauf ist strukturiert und behandelt in verschiedenen Phasen unterschiedliche Themen. Zu Beginn wird das Vorgehen für die Patientinnen und Patienten begründet, um zu wissen, wozu das Psychotherapieverfahren dient. Darauf folgt das chronologische Durcharbeiten der Lebensphasen von der Kindheit bis ins hohe Alter. Tauchen kritische oder traumatische Lebensereignisse auf, gilt es diese zu würdigen und später einen persönlichen Abschluss für die Patientinnen und Patienten mit dem Erlebten zu finden. Am Ende der Therapie ist es wichtig herauszustellen, welche Veränderungen stattgefunden haben und welche neuen Erkenntnisse entstanden sind.
Die Lebensrückblicktherapie hat verschiedene Einsatzbereiche, die von der Wohlbefindenssteigerung über den Einsatz bei Anpassungsproblemen in Lebenskrisen bis zur Behandlung von Depressionen oder Traumafolgestörungen bei Menschen mit Demenz reicht. Neben Verfahren aus der kognitiven Verhaltenstherapie und der psychodynamischen Psychotherapie ist sie eine wirksame und häufig bei der Behandlung älterer Menschen eingesetzte Form der Psychotherapie.

Unklare Verantwortunsgbereiche

Das laufe nicht ohne Reibereien, erzählt Rotondo: „Am Anfang war völlig unklar, was von einem Psychologen getan werden müsste.“ Seine Vorgängerin hätte das Team der Beschäftigungstherapie geleitet. Diese Aufgabe habe er abgegeben und versucht, auch an anderen Stellen die Strukturen zu überprüfen und zu verbessern. So ging es beispielsweise um scheinbar einfache Aspekte wie die Raumgestaltung. „Für Demenzpatienten ist es schwierig sich zu orientieren, wenn in den Fluren neben Blumenfotos Bilder hängen, die Großstädte wie New York abbilden“, so Rotondo weiter.
Mittlerweile ist zur Hauptaufgabe des Psychologen geworden, die Mitarbeiter zu coachen. Die Situation habe sich dadurch schon verbessert, für einen Psychotherapeuten plädiert Rotondo aber trotzdem: „Ein angestellter Psychotherapeut könnte sich neben den Pflegefällen auch um das Personal kümmern – und vielleicht sogar um die Angehörigen.“
Wie wichtig Psychotherapieangebote für pflegende Angehörige sind, hat auch Karina Lehnhardt erfahren. „Die Veränderungen kamen eher langsam. Es ging in den Gesprächen oft um sehr konkrete Ereignisse, von denen ich berichtet habe“, erklärt sie. Die Therapie habe ihr sehr geholfen, sich selbst besser zu verstehen, sich innerlich distanzieren zu können und damit auch Grenzen zu setzen. „Mittlerweile habe ich an bestimmten Stellen die Weichen so gestellt, dass ich mich weitgehend heraushalten kann. Ich selbst arbeite nicht für meinen Mann“, stellt die 52-jährige fest. Das mag für Betroffene etwas hart klingen, ist aber ein notwendiger Schritt, um nicht an der Pflegebedürftigkeit des Angehörigen selbst zugrunde zu gehen. „Nein“ zu sagen, das ist oft nicht leicht, aber, so Lehnhardt weiter, „es war sehr erleichternd, auch mal eine Entscheidung abgeben zu dürfen und in einem kleinen Bereich nicht verantwortlich sein zu müssen.“
Anderen pflegenden Angehörigen empfiehlt Karina Lehnhardt, sich unbedingt Hilfe zu holen, wenn die Belastung zu groß wird. Und wenn es nur der eigene Hausarzt ist. Außerdem hat sie eine Idee, wie die Situation verbessert werden könnte, um Angehörigen zu helfen: „Es müsste beim Hausarzt ein Schreiben geben, in dem pflegende Angehörige dem Hausarzt erlauben Daten und Kontakte an eine neutrale Stelle weiterzuleiten. Die setzen sich dann mit den Betroffenen in Verbindung und sind erst einmal nur für Gespräche da und schauen, wo Bedarf vorhanden ist. Und zwar proaktiv, damit nicht erst die Betroffenen den ersten Schritt machen müssen.“
*Name von der Redaktion geändert
 
Veröffentlicht am 01.06.2018